„Kinner vun de Gass“

Manfred Lippold hat in 17 Jahren als Jugendleiter und als stellvertretender Abteilungsleiter der TSG Bretzenheim viele Erfolge feiern dürfen. Meisterschaften, Aufstiege, Pokalsiege, den erfolgreichen Kampf für den Bau zweier Kunstrasenplätze. Doch fragt man den 58-jährigen nach seiner größten Leistung, muss er nicht lange überlegen, bis er auf Malte Wahlen kommt.

„Malte war kleinwüchsig und konnte deswegen nicht in seiner Altersgruppe mitspielen. Also haben wir beim Verband erwirkt, dass er bei den vier Jahre jüngeren mitmachen darf“, erzählt Lippold stolz. Zunächst habe es viel Widerstand und Unverständnis bei den anderen Vereinen gegeben. Sogar eine Geldstrafe wurde der TSG aufgebrummt, weil sie Malte zunächst ohne Erlaubnis spielen ließen. Doch Lippold, der von allen liebevoll Specki genannt wird, ließ nicht locker und erwirkte letztendlich die Spielerlaubnis. „Wir haben Malte eine tolle Kindheit ermöglicht und darauf bin ich sehr stolz“, sagt Lippold heute. Die Geldstrafe zahlte er aus eigener Tasche.

Dass Specki unter all den Geschichten aus 17 Jahren gerade diese auswählt, sagt viel aus über seinen Blick auf die eigene Arbeit. „Für mich muss im Breitensport immer der Mensch im Vordergrund stehen und nicht der kurzfristige sportliche Erfolg“, erklärt der gelernte Zentralheizungs- und Lüftungsbauer. „Das unterscheidet uns vom Leistungssport.“

Früh als Jugendtrainer aktiv

Manfred Lippold ist mit vier Jahren nach Bretzenheim gezogen und als B-Jugendlicher zur TSG Bretzenheim gewechselt. Er war ein talentierter Torhüter – auch wenn er sich die Position nicht aussuchen durfte. „Früher hat man einfach immer die Dicken ins Tor gestellt. Da war schnell klar, wo ich spielen würde“, lacht Lippold. Specki kam aber nicht bloß als Spieler. „Ich habe schon mit 15 oder 16 angefangen, Jugendmannschaften zu trainieren“, erzählt er. Sein letztes Jahr als A-Jugendlicher verbrachte er bei Mainz 05 bevor er in die Herren-Mannschaft der TSG Bretzenheim wechselte.

Bis heute bezeichnet er das Jahr beim damals drittklassigen FSV als sehr wertvoll. Unter anderem hatte er dort zum ersten Mal Torwarttraining – etwas, worauf er auch im weiteren Verlauf seiner Trainer- und Jugendleiterkarriere großen Wert legte.

Als der damals 41-jährige 2002 dann neuer Jugendleiter wurde, war die Situation eine völlig andere als heute. Gibt es inzwischen 23 Juniorenteams, waren es damals gerade elf. Viele Mannschaften litten unter akutem Spielermangel und auch bei Jugendtrainern aus der Region galten die 46er nicht als besonders attraktiv. Für Lippold gab es dafür mehrere Gründe: „Zum einen hatten wir bloß einen Rasenplatz ohne Flutlicht, der die Hälfte des Jahres nicht bespielbar war und zwei Hartplätze, die ständig unter Wasser standen. Zum anderen waren die Prioritäten der Vereinsführung völlig falsch gesetzt.“

Die Jugend nicht gefördert

Statt die Jugend zu fördern, sei das wenige zur Verfügung stehende Geld vor allem in die erste Mannschaft investiert worden. Die war in den Jahren zuvor zwar durchaus erfolgreich gewesen und von der B-Klasse bis in die Bezirksliga aufgestiegen (Cheftrainer war Peter Krawietz, der inzwischen Co- Trainer von Jürgen Klopp beim FC Liverpool ist).

Im Zuge dieser Erfolge sei die Jugend aber völlig vernachlässigt worden. Es fehlte nicht nur an Trainern und einem vernünftigen Platz – auch Bälle und Trikots gab es viel zu wenige. „Es war eine Katastrophe. Die Kinder kamen abends, um Fußball zu spielen und wir mussten sie nach Hause schicken, weil der Platz unter Wasser stand“, erinnert sich Lippold, „oder sie standen während des Trainings die meiste Zeit nur rum, weil wir nur ein oder zwei Bälle für eine ganze Mannschaft hatten.“

Also besorgte Specki als erste Maßnahme insgesamt 200 Bälle, damit jedes Kind seinen eigenen hatte. Er setzte sich öffentlichkeitswirksam für einen Kunstrasenplatz ein – 2005 wurde der erste Hartplatz durch Kunstrasen ersetzt (seit 2016 ist auch der zweite ehemalige Hartplatz ein Kunstrasen). Außerdem besorgte er günstig alte Trikots und ließ sie neu beflocken.

„Vom Gameboy weg und hin zum Fußball“

Nichts klappte ohne Widerstände und so, wie man es sich zunächst vorgestellt hatte. „Die ersten sechs Jahre waren gelebt 30 Jahre“, sagt Lippold, der auch beim Verband zunächst kaum Gehör fand. „Ich erinnere mich an die erste Jugendleitersitzung, da musste ich ganz hinten in der Ecke sitzen und durfte praktisch gar nichts sagen.“

Eine schwierige Situation für den leidenschaftlichen Lippold, der sich selbst als „Jugend-Idealist“ bezeichnet. Vieles, was zu seinen Anfängen im Jugendfußball passierte, hielt er für besorgniserregend. „Ich wollte die Kinder vom Gameboy weg und hin zum Fußball führen. Andere Vereine haben Kindern die neuesten Spielekonsolen angeboten, wenn sie zu ihnen wechselten.“ Außerdem fingen viele Vereine schon in ganz jungen Jahren an, Spieler auszusortieren und durch externe Neuzugänge zu ersetzen.

Lippold hingegen machte das genaue Gegenteil, er etablierte den zunächst belächelten Slogan „Kinner vun de Gass“. Die Idee dahinter war, dass alle Kinder, insbesondere aus Bretzenheim, willkommen sind bei der TSG und niemand weggeschickt wird. Für den Jugendleiter war von Anfang an klar: „Jeder darf hierherkommen und Fußball spielen.“ Das System funktionierte, fast täglich kamen neue Kinder dazu und entdeckten ihre Liebe zum Fußball. „Kinner vun de Gass“ stand bald auf allen Trainingsanzügen und wurde zum Markenzeichen des Vereins.

Viele Spieler, wenig Trainer

Nicht wenige Teams waren in der Folge eigentlich zu groß – insbesondere für die oftmals aus der Not geborenen Trainer. Meistens handelte es sich um Väter oder Spieler aus der A- und B-Jugend, einen Trainerschein hatte kaum jemand.

Trotz der Mannschaften, teilweise bestehend aus 30 oder noch mehr Kindern, die natürlich auch ein gewisses Talentgefälle aufwiesen, schloss Specki eins immer kategorisch aus: „Wir schicken hier niemanden weg, weil er angeblich nicht gut genug spielt.“ Er hielt und hält es noch immer für ein Unding im Breitensport, den sportlichen Erfolg eines Teams über das Wohlbefinden des Einzelnen zu stellen.

Drei Meisterschaften in drei Jahren

Deshalb lehnt Lippold auch externe Neuzugänge im Jugendfußball größtenteils ab – obwohl oder gerade weil er selbst unzählige Juniorenteams betreut hat: „Es ist doch das Größte für einen Trainer, zu sehen wie die Spieler durch mein Training besser werden“, findet er. „Wo ist denn der Spaß, wenn ich jedes Kind, das noch nicht ganz so gut ist wie der Rest, einfach durch jemand externes ersetze?“

Dass dieses Festhalten an den eigenen Spielern und Talenten auch zu großen sportlichen Erfolgen führen kann, zeigt wohl nichts besser als der 2000er Jahrgang, der im vergangenen Sommer zum dritten Mal in Folge Meister in ihrer Liga wurde.

Im zweiten Jahr B-Jugend wurden sie Meister in der Landesliga, das wiederholten sie im ersten Jahr als A-Jugendliche, bevor ihnen im Juni dieses Jahres die Sensation gelang: Als Meister der Verbandsliga schafften sie in ihrer letzten Saison als Jugendfußballer gemeinsam mit dem Jahrgang 2001 den Aufstieg in die Regionalliga.

Von den Bambinis zu den Aktiven

Betrachtet man allein die Spieler des 2000er Jahrgangs, finden sich im Kader der letzten Saison neun Spieler, die seit über zehn Jahren bei der TSG spielen – die allermeisten haben schon als Bambini in Bretzenheim gespielt. Es gibt unzählige Bilder aus den Jahren 2005 und 2006, die Spieler der Meistermannschaft als kleine Kinder mit viel zu großen Trikots auf Fußballturnieren irgendwo in Mainz zeigen. Ich hatte von Beginn an diesen Traum, eine Bambini-Mannschaft bis hin zu den Aktiven
zu begleiten“, erzählt Lippold, der immer wieder betont, dass der Erfolg und die heutige Popularität des Vereins kein Zufall seien. Er habe immer einen bestimmten Plan im Kopf gehabt, den er verfolgt hat.

Die TSG-Familie

Im Laufe der Jahre gab es immer wieder Angebote für Spieler der TSG – von scheinbar größeren Vereinen aus der Region. Warum nicht ein einziger Spieler des Jahrgangs 2000 gewechselt ist? Für Specki ganz einfach: „Wir sind eine Familie bei der TSG und man verlässt seine Familie nicht einfach für eine andere.“

Als sich der „goldene Jahrgang“ im vergangenen Sommer nun zu den Aktiven verabschiedet hat – erneut ist niemand dem Ruf des Geldes von anderen Vereinen gefolgt – hielt Manfred Lippold es für den richtigen Zeitpunkt, auch seine Tätigkeit als stellvertretender Abteilungsleiter zu beenden. Den Posten des Jugendleiters gab er bereits 2012 ab.

„Es waren 17 tolle Jahre. Aber ich dachte, ich höre auf bevor mich niemand mehr sehen will“ scherzt
er. Auch ohne Position im Verein ist Specki regelmäßig auf der Bezirkssportanlage und beobachtet den Verein noch immer sehr genau.

Als Mitglied des Sportausschusses der Stadt Mainz setzt er sich weiterhin sehr aktiv für den Bau und die Instandhaltung von Sportplätzen in Mainz ein. Zudem ist er Mitglied des Bretzenheimer Ortsbeirats und Vorsitzender des Bretzenheimer Vereinsringes.

Der 2000er Jahrgang ist übrigens nur ein Beispiel von vielen – aktuell schlagen sich 2001er und 2002er sehr gut im Abstiegskampf der Regionalliga. Kapitän Dennis Müller spielte schon als kleines Kind bei der TSG. Niklas Selenka, Jan Hehner und einige andere genauso.

“Kinner vun de Gass“ ist zwar nicht mehr das gleiche wie vor 17 Jahren – dafür reichen schlicht die Kapazitäten nicht aus – aber noch immer arbeitet der Verein nach den Werten, die Lippold etabliert hat.

David Kulessa

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